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Die Hauspostille des LIBU Verlages
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INHALT:

Lass uns nicht mehr darüber reden

Immer am Ball bleiben

Durchtrieben

Faulende Kompromisse

Wahn – Wann

Knochenmühle

Der wunde Punkt

Liebe in Häppchen

Eine Eisenbahngeschichte

Finale Fatale


Durchtrieben


Wie eine Sau wurde sie durch die Straßen der Stadt getrieben.

Seht euch dieses Schwein bloß mal an, wie durchtrieben es doch ist. Mensch, dieses Kaliber hat uns um unser gutes Geld geprellt. Das müssen wir diesem Ferkel jetzt ein für alle Mal austreiben.“

Und so rannte die Meute hinter ihr her, schlug sie nicht nur mit Worten, Lauten und Rufen, sondern noch dazu mit Stöcken, Knüppeln und allerlei Gerät, das ihr zwischen und unter die Finger kam. So geprügelt rannte die Getriebene um ihr Leben, so gut sie es eben vermochte, auch als sie schon nicht länger konnte und mochte. Denn nicht sehr lange ging die wilde Treibjagd gut für sie, da sie auch bald, wie ihr schon vor einer Weile alle Geldmittel ausgegangen waren, ihre Körperkräfte verließen. Irgendwann langte es ihr und sie legte sich einfach dorthin nieder, wo sie sich gerade befand. Längst und mitten auf die Straße hockte sie. Für einen kurzen Moment stockten die Verfolger irritiert, aber es war nur ein Kraftholen und mitnichten ein Einhalten gewesen, denn sie hatten sie ja gut greifbar vor sich, um sie zu packen. Es gab keinen Anlass von ihr zu lassen, von ihr abzulassen, ganz im Gegenteil wurde jetzt noch umso mehr und heftiger auf sie eingehauen und sogar gestochen. Doch, o Wunder, schienen alle Übergriffe sie nicht einmal zu erreichen, was alle Gegner schließlich in ziemliches Erstaunen versetzte.

Schaut doch nur, wie durchtrieben dieses Dreckstück ist!“, wurde laut gerufen. „Wie und wieso kann die nur immun sein? Dabei hätte sie doch fürwahr noch erheblich härtere Strafen wegen ihrer Untaten verdient, findet ihr nicht auch?“

Sämtliche und alle Verfolger nickten bejahend, bestätigten jedes dieser Worte, und dann geschah doch wahrlich noch etwas Ungeheuerliches, womit wirklich keiner gerechnet hätte und was die Wut auf die Verfolgte nur noch mehr vergrößerte: Die Sau schlief doch tatsächlich einfach auf der Stelle ein, als wenn sie die ganze Angelegenheit gar nichts angehen oder sie nicht berühren würde. Schaum trat vor die umstehenden Mäuler, doch keinem der Horde gelang es, die arme Sau totzuschlagen, so lange die Bande es auch versuchen mochte. `Es kommt ja immer nur auf einen Versuch an´, sagte sich das Pack. Jedoch irgendwann entschloss sich das Gesindel einzupacken. Ihm war wohl die Lust vergangen. Wer scheinbar derart lebendig war, dass ihm der Tod nichts anhaben konnte, der musste doch aus einem anderen, einem fremdartigen Trieb und Holz stammen, der konnte nicht einfach aus dem ganz gewöhnlichen und normalen Leben kommen. So ein Fall ließ sich doch meistens nur durch einen Zufall mit wenig Aufwand beenden. Ungläubig stand die Meute da, starrte auf ihre schmutzigen blutverschmierten Hände, auf die Hölzer, aus denen Splitter und Späne herausragten, an denen Fasern und Gewebe des geschundenen Leibes hingen, der immer noch im Tiefschlaf zu ihren Füßen lag. Ob sie es jetzt etwa gut sein lassen sollten? Ihre Enttäuschung hätte nicht größer sein können. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Wie konnte sich ihnen nur das Schicksal verweigern? Welchen Mächten standen sie da nur so plötzlich hilflos gegenüber? Sie verlangten ein sichtbares Zeichen des Ausgleichs, ein Opfer, damit sie wenigstens den Hauch einer Genugtuung verspüren konnten. Was aber konnte man mit einer halbtoten Sau anfangen, die einfach nicht sterben wollte? Plötzlich ging die Rede vom Gnadenbrot und alle kamen sich nicht nur gnädig, sondern auch überaus erhaben vor. `Ja´, dachten nun alle bei und über sich, `wir besitzen wahre Größe!´ Rasch vergaßen sie, dass sie eben erst als Mob hinter dem armen Schwein hergejagt waren, um es zu töten. Ein jeder räusperte sich, ging unauffällig seiner Wege und bemühte sich mit Acht zu verlauten, nicht unter den Verfolgern gewesen zu sein. Das Schwein aber lag immer noch ungerührt an derselben Stelle und entschlief irgendwann auf einmal heimlich, still und leise, was jedoch niemand bemerkte und keinem auffiel. Nun brauchte sich immerhin auch niemand als Mörder zu fühlen. So durchtrieben war diese Sau gewesen, dass sie den Tätern sogar diesen tödlichen Genuss geraubt hatte.

 ©Dorothee Vohl
LIBU Verlag e. K.
Freiburg im Breisgau, 2013

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/de


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